Jetzt können Sehbehinderte Schriftsätze in Form von Audiodateien verlangen

29. Februar 2024
stock.adobe.com - Robert Kneschke

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Dieses Urteil wird in der Gerichtspraxis ein gutes Stück Barrierefreiheit durchsetzen. Es handelt sich zwar um ein Urteil aus dem Mietrecht, der Fall ist aber auf jeden anderen Rechtsstreit übertragbar (Landgericht (LG) München I, 12.9.2023, Az. 14 T 9699/23).

Eine Vermieterin hatte ihrer Mieterin wegen eines Zahlungsverzugs gekündigt und sie dann auf die Räumung der Wohnung verklagt. Die Mieterin behauptete nun, sich in einem mit Blindheit vergleichbaren Zustand zu befinden. Nach einem ärztlichen Attest sei sie „funktionell erblindet“ und daher in allen Bereichen des Alltags schwer in ihrer Selbstständigkeit eingeschränkt. Ihr Zustand erfordere es, dass „die Augen die meiste Zeit des Tages sowie in der Nacht mit Uhrglasverband abgeklebt werden“.

Mieterin forderte Audiodateien

Da die Mieterin der Blindenschrift nicht mächtig war, beantragte sie mehrfach, ihr sämtliche Schriftsätze des gerichtlichen Verfahrens barrierefrei in Form einer Audiodatei zur Verfügung zu stellen. Gegen eine ablehnende Entscheidung legte die Mieterin sofortige Beschwerde ein.

Mieterin bekam recht nach ihrer Beschwerde

Und sie bekam recht! Sie konnte – trotz anwaltlicher Vertretung – die barrierefreie Übermittlung der Schriftsätze in Form von Audiodateien verlangen. Das Gericht nannte diese Normen in seiner Begründung: § 191a Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 Gerichtsverfassungsgesetz i. V. m. § 4 Zugänglichmachungsverordnung (ZMV).

Danach kann eine blinde oder sehbehinderte Person verlangen, dass ihr Schriftsätze und andere Dokumente eines gerichtlichen Verfahrens barrierefrei zugänglich gemacht werden.

Andere Gerichte sehen das anders

Da das Gericht von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesgerichtshofs abgewichen ist, hat es die Rechtsbeschwerde zugelassen. Es wird abzuwarten sein, wie weiter entschieden wird. Vieles spricht jedoch dafür, dass das Urteil richtig ist. Auch sehbehinderte Menschen müssen an Gerichtsverfahren bestmöglich beteiligt werden. Nur das ist eine echte Inklusion vor den deutschen Gerichten in Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention.

Der Verordnungstext

Verordnung zur barrierefreien Zugänglich­machung von Dokumenten für blinde und sehbehinderte Personen im gerichtlichen Verfahren (Zugänglichmachungsverordnung – ZMV). § 4 Umfang des Anspruchs: (1) Der Anspruch auf Zugänglichmachung besteht, soweit der berechtigten Person dadurch der Zugang zu den ihr zugestellten oder formlos mitgeteilten Dokumenten erleichtert und sie in die Lage versetzt wird, eigene Rechte im Verfahren wahrzunehmen. (2) Die Zugänglichmachung erfolgt auf Verlangen der berechtigten Person. Die nach § 1 Abs. 3 verpflichtete Stelle hat die berechtigte Person auf ihren Anspruch hinzuweisen. (3) Das Verlangen auf Zugänglichmachung kann in jedem Abschnitt des Verfahrens geltend gemacht werden. Es ist aktenkundig zu machen und im weiteren Verfahren von Amts wegen zu berücksichtigen.

Fazit: Menschen helfen

Anhand dieses Falls wird auch ersichtlich, dass wir von echter Inklusion offensichtlich noch ein weites Stück entfernt sind. Andernfalls hätte es dieses Beschlusses nicht bedurft. Natürlich möchte ein sehbehinderter Mensch auch die Inhalte der Schreiben der Gegenseite, des eigenen Anwalts und des Gerichts erfahren. Und zwar nicht nur über Dritte, sondern unmittelbar. Und das geht eben am einfachsten über Audiodateien. Geben Sie das Urteil insbesondere an sehbehinderte Kolleginnen und Kollegen weiter. Es sollte auch in Ihrer Dienststelle zur Selbstverständlichkeit werden, dass sehbehinderten Kundinnen und Kunden Ihrer Behörde zumindest auf Verlangen entsprechende Audiodateien zur Verfügung gestellt werden. Sprechen Sie Ihren Dienstherrn darauf an, ob überhaupt die Technik dafür in Ihrer Behörde zur Verfügung steht.

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